Donnerstag, 12. Januar 2012

Bundespräsident contra mediale Funktionseliten

Es ist schwer zu entscheiden, welches Gewicht die Vorwürfe gegen einen Bundespräsidenten haben müssen, damit ein Rücktritt zwingend nahe liegt.

Möglich dass es sich nach internationalen Maßstäben im Falle Christian Wulff um Vorwürfe handelt, die unter der Schwelle der Rücktritts-Relevanz liegen.

Allerdings erscheint der Bundespräsident einem Politik-Stil verhaftet, wie er auch schon bei einem Ministerpräsidenten eines Bundeslandes unangenehm auffällt: Taktische Finessen im Machtkampf, Halbwahrheiten bei der Beantwortung von Fragen im Landtag, einseitige Bindung an Unternehmer, die Interessen der Wirtschaft bzw. einzelner Unternehmen, einem jahrzehntelang praktizierten machtpolitischen Stil, der inhaltliche Bindungen immer mehr in den Hintergrund drängt, das permanente schauspielerische Ausspielen der mit dem persönlichen Habitus verbundenen Glaubwürdigkeits-Anmutung. Intellektuell unterkomplexe politische Aussagen wie in seiner „Islam-Rede“, Fortsetzung des rüden Umgangs mit den politischen Akteuren der Medien, zahlreiche Pharisäerhafte moralische Angriffe auf Politiker konkurrierender Parteien, deren moralischen Impetus man für sich nicht entfernt gelten lässt.

Dazu ein denkbar unzureichendes Krisen-Management und mangelnde Stilsicherheit, die bei einem Sprößling einer langjährigen Oberschicht-Familie kaum anzutreffen wäre.

Unzureichende Lernfähigkeit und Einsichtsfähigkeit dürfte hinzukommen.

Insgesamt eine Mischung, die zu ertragen viel Konflikt-Toleranz erfordert.

Dieses Profil war den Wählern des Bundespräsidenten in der Bundesversammlung doch sicherlich mindestens partiell bekannt.

Was sich zur Zeit abspielt, ist jedoch ein Machtkampf eines politischen Amtsträgers, des höchsten Repräsentanten dieses Staates, und seiner Unterstützer gegen die Machtbesessenen und ebenfalls Pharisäerhaften und arroganten Repräsentanten der großen Medien.

Die Vertreter der Medien sind politische Akteure, die nur zusätzlich noch die Fahne der Pressefreiheit vorantragen, um sich eine höhere Legitimität zu verschaffen.

Es sind die Vertreter des Mainstream-Journalismus, die sich erlauben, Themen und Informationen auszusparen, Tabus zu errichten und zu erhalten sowie unlegitimierte machtpolitische Ansprüche zu erheben. Zum großen Teil Kapital-gestützt und dem gehobenen Bürgertum interessenmäßig verpflichtet oder der besser verdienenden Hierarchie der Öffentlich-Rechtlichen zugehörig.

Was tun? Wie entscheiden?

Diese Frage stellt sich dem Bürger, der sich politisch-theoretisch und durch politische Praxis keiner dieser beiden Gruppen unterlegen fühlen muss, sich aber auch keiner von beiden Machtgruppen verbunden oder gar verpflichtet fühlt.

Ist unser Bundespräsident besserungsfähig oder nur ein „Aussitzer“ von besonderem Format? Wer mag das entscheiden?

Aber: Wer sich in dieser Woche die einseitig zusammengesetzten Talkrunden von Günter Jauch und Markus Lanz angetan hat, dürfte sich schwer tun, den Stab über Christian Wulff zu brechen.

So viel schauspielerisch geschickt vorgetragenes Pharisäertum fand sich selten in unseren Medien:

Wie der von den Medien als Politik-Berater ständig präsentierte Michael Spreng sich dermaßen aufspielen kann, und dies angesichts seiner Rolle und strategischen Verantwortung als langjähriger Chefredakteur der Bild ist unerfindlich. Er hat auch keine Skrupel zweifelhafte Deals zwischen Politikern und Medien als selbstverständlich hinzustellen nach dem Motto „Du Christian Wulff gibst uns Auflagen-fördernden Einblick in deine neue Familie, wir bringen deine Scheidung positiv rüber, obwohl du Gerhard Schröder genau wegen seiner vielen Familien-Neugründungen Moral-triefend kritisiert hast“. Oder auch Heide Simonis, die betont skrupelbehaftet dann doch den Rücktritt forderte : Was hat eben diese Heide Simonis,SPD, für ein Schauspiel vor dem Hamburger Untersuchungsausschuss zur HSH Nordbank abgeliefert, nach dem Motto „Ich habe das alles nicht so richtig verstanden und wir haben uns an den Bank-Experten aus dem Vorstand orientiert“. Nun: Heide Simonis ist verantwortlich als Aufsichtsratsvorsitzende der HSH Nordbank bis 2005 für die Aufnahme großer Milliardenbeträge noch zu Zeiten der Gewährsträgerhaftung zu günstigen Konditionen, die dann unter ihrer Ägide und der ihres Nachfolgers Dr.Peiner, CDU, zum wenig professionellen Ankauf von Risiko-Papieren verwandt wurden und so mit zum Fast-Zusammenbruch der Bank führten. Die Nord-LB ist da weniger belastet.

So könnte man das Ganze auch bei den anderen Teilnehmern fortsetzen.

Um es zusammenfassend festzuhalten: Es hätte mich auch gereizt, die Schwachpunkte des Wulffschen Versagens im einzelnen mehr oder weniger genüsslich aus einander zu nehmen, es ist für meine Ansprüche fast schon zu leicht.

Muss man aber Stellung nehmen, wenn sich die „ politischen Riesen“, mediale und politische Funktionseliten, in der Arena bekämpfen?

Der Bürger kann und muss mit jedem Ausgang des Schauspiels leben.

Jeder einzelne berechtigte Vorwurf scheint ein Stück zu kleines Karo für den Rücktritt eines Staatsoberhaupts. Ob die Summe wirklich die neue Rücktritts-relevante Qualität bringt?

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